Mut zur Mündigkeit: Der Kriegskonformismus bedroht unsere Demokratie

Die Militarisierung der internationalen Politik führt zur Feindseligkeit, statt zu mehr Frieden zwischen den Gesellschaften. |

An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.
(Erich Kästner)

I. Wo bleibt heute der aufklärerische Geist, den Immanuel Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ beschrieben hat? Aufklärung, die in unserer Zeit großer Herausforderungen, Konflikte und Krisen überlebensnotwendig gebraucht wird. Die Antwort des großen Philosophen Kant, der vor 300 Jahren in Königsberg geboren wurde und das Denken revolutionierte, hieß: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Und weiter: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

Kants Leitspruch lautete: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Das Kantsche Denken ist die „Revolution der Denkart“. Sie ist der auch schmerzhafte Prozess, eine Distanz zu Meinungen, Wertvorstellungen und Entscheidungen zu gewinnen, die es erlaubt, jene kritisch zu hinterfragen. Wie auch in Kants Ethik vom kategorischen Imperativ geht es um die Regeln für Vernunft und gemeinsame Verantwortung. Was ist das Erbe des Aufklärers Kant?

Den Mut zur Mündigkeit brauchen wir nicht nur angesichts der heutigen Weltakteure Trump, Putin oder Xi Jinping, die dem „alten Europa“ schwer zu schaffen machen, sondern auch, weil wir uns schwertun, die neuen Realitäten zu erkennen und einzuordnen, was zu einem einfältigen Meinungskonformismus der Anpassung, ja sogar zu einem Militärkonformismus geführt hat. Natürlich: Trump überträgt sein privates Geschäftsmodell auf die Politik, aber ist nicht auch bei uns die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik seit rund vier Jahrzehnten vom Neoliberalismus geprägt, der den Markt über die Demokratie stellt? Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist nicht zu rechtfertigen, aber hat nicht auch er eine komplexe und komplizierte Vorgeschichte, an der der Westen maßgeblich beteiligt ist. Der Versuch, Putins Motive zu verstehen, heißt nicht, Verständnis für sein verurteilungswürdiges Handeln zu haben. Xi Jinping verfolgt eine eigenständige chinesische Entwicklungstheorie, die sich von der westlichen Moderne unterscheidet, aber ist China deshalb ein „revisionistischer Staat“? Rechtfertigt all das die Diffamierungen, auch die der Außenministerin, für die Diplomatie und Frieden Fremdworte sind?

Mit dem Einmarsch der russischen Invasionstruppen am 24. Februar 2022 in die Ukraine bekamen der Konformismus und die Militarisierung der internationalen Politik eine neue Schärfe. Der Krieg wurde zum Katalysator für den Kampf um eine neue Weltordnung. Die Konkurrenz der USA mit China rückt immer stärker in den Mittelpunkt internationaler Politik, so auch im Konzept „Nato 2030“. Und die USA drohen in der zweiten Präsidentschaft Trumps zu einem Land des unberechenbaren Egoismus zu werden.

Die Kritik an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine verdeckt, dass ihm ein Weg der Entfremdung, Fehler und Zuspitzungen vorausgegangen ist. Im Krieg explodierte nicht nur die ethnisch-kulturelle Verwandtschaft zwischen Russland und der Ukraine, breiteten sich Tod, Elend und Zerstörung aus, deutlich wurde auch die Maßlosigkeit und Selbstgerechtigkeit westlicher Staaten im Umgang mit dem größten Land der Erde. Der Zeitgeist wurde zum bellizistischen Furor. Die nahezu einzige Forderung in der politischen und veröffentlichten Meinung des Westens lautet Waffenlieferungen. Ein Krieg der ständigen Eskalation bis zur Erschöpfung?

Medienauswertung: Die Falken sind in der Überzahl

Helmut Donat und Johannes Klotz haben die Talkshows, Gesprächsrunden und Kommentare zum Ukrainekrieg im Ersten und Zweiten Fernsehen sowie den Presseclub vom 24. Februar bis Ende Oktober 2022 ausgewertet. Ihr ernüchterndes Ergebnis: über 90 Prozent der Teilnehmer und Kommentatoren waren „Falken“, die eine Ausdehnung der Waffenlieferungen in die Ukraine forderten. Immer mehr Waffen und Munition mit dem irrealen Ziel eines Sieges über die Atommacht Russland? Kaum ein Wort zu den unter dem Krieg leidenden Menschen, zur Beendigung von Tod und Verletzungen, zur Gefahr der Eskalation des Krieges. Schon gar keine Forderungen nach Waffenstillstand und Friedensverhandlungen.

Für den Mainstream ist Russland nur noch Putin. Zug um Zug trat in den letzten Jahren eine unversöhnliche Konfrontation an die Stelle der Suche nach Verständigung. Doch unser Kontinent braucht eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur. Aber auch die mühsam geschlossenen Verträge für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung zwischen den USA und Russland wurden aufgekündigt. Das Verschrotten landgestützter Mittelstreckenraketen ist Geschichte. Weltweit wachsen die Militäretats, in unserem Land haben sie sich in den letzten zehn Jahren nach Nato-Kriterien von 32,5 auf 90 Milliarden Dollar nahezu verdreifacht. Auch die atomare Aufrüstung nimmt wieder zu.

Von einer Friedens- und Entspannungspolitik ist heute keine Rede mehr. Es geht nicht mehr um „friedensfähig“, sondern um das Gegenteil: „kriegstüchtig“. Von „Wandel durch Annäherung“ ist keine Rede mehr. Die Formel von Egon Bahr aus dem Jahr 1963 wurde dreist auf „Wandel durch Handel“, also auf wirtschaftliche Interessen verdreht. Die Nord-Stream-Pipeline steht nur noch für die Lieferung von „klimaschädlichem Gas“ aus Russland, das dem Kreml die Taschen füllt, während das teure, umweltzerstörende Fracking-Gas aus den USA kritiklos hingenommen wird. US-Präsident Joe Biden war es, der im Rosengarten des Weißen Hauses das Ende des Nord-Stream-Projekts verkündet hat, während Bundeskanzler Scholz sprachlos danebenstand.

Fake und Framing: Der demokratische Diskurs ist gefährdet

Wie konnte es zu diesem Meinungskonformismus kommen? Politisches Denken muss doch rational und in der Wahrnehmung möglichst objektiv sein. Die moderne Neuroforschung stellt diese aufklärerische Maxime längst infrage. Entscheidend ist der kognitive Deutungsrahmen, in der Wissenschaft Frames genannt. Sie bestimmen mit, wie politische Fakten gewertet werden. Der demokratische Diskurs ist gefährdet, wenn diskursive Strukturen in unserer Gesellschaft wegbrechen und nur ein digitaler Individualismus die öffentliche Meinungsbildung prägt. Framing hebt subjektiv Ereignisse besonders hervor, während andere relativiert oder ganz weggelassen werden. Political Framing kann uns ein bestimmtes Denken einreden, es übertreibt, vereinfacht oder verschweigt wichtige Fakten und Zusammenhänge. Fakes verzerren die Wirklichkeit, werden zu manipulierten Darstellungen. Donald Trump ist hierin ein Großmeister. Christa Wolfs Warnung gilt noch immer: „Wenn ich die Sprache der Kriegsberichterstatter höre, nimmt mein Verdacht zu, dass wir manipuliert werden.“ Tatsächlich ist Krieg mit Täuschung und Lügen verbunden.

Der Meinungskonformismus blendet oft die Geschichte aus, selbst die deutsche mit ihren dunklen Seiten. Russland ist per se das Andere, das Böse. Das Ende des Kalten Krieges wurde nicht als Neuanfang gesehen, sondern das Alte wird in neuer Form fortgesetzt. Der frühere US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der noch immer einen beträchtlichen Einfluss auf die amerikanische Außenpolitik hat, stellte in seinem Buch „The Grand Chessboard“ (1997, neu aufgelegt 2016) die Behauptung auf, die Ukraine sei das Schlüsselland im Kampf gegen Russland. In Deutschland heißt der Buchtitel korrekter „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft und der Kampf um Eurasien“.

Auch in Deutschland legen „Sicherheitsexperten“ die Rüstung an, Kriegsrhetorik dominiert. Nach ihrer Ansicht wird die Freiheit nicht mehr am Hindukusch verteidigt, sondern in der Ukraine. Die FAZ behauptet: „Die Ukraine hält die Front, die uns von der Barbarei trennt.“ Der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter fordert sogar: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern auch Ministerien, Kommandostände und Gefechtsstände.“ Die Vergangenheit des Kalten Krieges ist zurück. Aber steht in unserem Grundgesetz für die Bundeswehr nicht „Verteidigung“ statt „Angriff“?

Der Konformismus ist auch Ausdruck einer Zeit, in der ein neuer und alter Nationalismus die Geschicke vieler Gesellschaften unter Druck setzt. In der der Islamismus und die neue und alte Rechte einen gemeinsamen Feind haben: den westlichen Liberalismus. Eine Zeit, in der die gesellschaftliche Mitte zerbricht, die keine weltgeschichtliche Hoffnung mehr zu hegen scheint und in der sich ein tiefes Gefühl von Verlust ausbreitet, der viele Menschen mutlos macht. In der ein pöbelnder Kandidat an die Spitze eines Landes, das die Menschenrechte in seiner Gründungsurkunde trägt, gewählt wurde.

Der Trumpismus, der von seinen Anhängern bedingungslos gefeiert wird und Donald Trump erneut, diesmal zum 47. Präsidenten der USA gewählt hat, muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Die amerikanischen Demokraten haben den radikalen Geschäftsmann mit der Zuschreibung weird ins Abseits stellen wollen – der komische, seltsame, nicht ernst zu nehmende Kandidat. Doch das wird den Herausforderungen unserer Zeit und den Ängsten und Erwartungen der Menschen nicht gerecht. Der US-Wahlkampf war das Gegenteil eines politischen Diskurses um einen echten Neuanfang, der Wahrhaftigkeit, Ernsthaftigkeit und Richtigkeit braucht statt all der Unsäglichkeiten, Provokationen und Lügen, die ein Klima der Konfrontation schaffen, nicht aber die Stimmung für einen echten Aufbruch.

Trump hat die Wahl trotz reaktionärer Ansichten gewonnen. America First! Der Nationalismus ist ein Grundzug unserer Zeit, der dabei ist, zu einem fruchtbaren Feld für eine „Gegenaufklärung“ zu werden, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Für gezielte Vorstöße gegen mühsam erkämpfte Werte, um für eine konservativ-nationalistische Rezession gegen eine globale Welt der Verständigung zu streiten.

Bellizismus statt Entspannungspolitik: Was ist aus der Friedensbewegung geworden?

II.   Wir brauchen Aufklärung und Mut zur Mündigkeit. In einer Zeit, in der in der Ukraine seit mehr als 1000 Tagen ein brutaler Krieg herrscht, der zum Dritten Weltkrieg werden kann. In der im Nahen Osten Krieg und Gewalt zu einem Flächenbrand der ganzen Region zu werden droht. In einer Zeit, in der weitere 20 Kriege kaum Aufmerksamkeit finden. In einer Zeit, in der die Weltgemeinschaft nicht fähig ist, sich auf das Notwendige zu verständigen, um die drängenden Zukunftsherausforderungen zu bewältigen, zumal die Ausbeutung der Natur viel tiefer reicht, als sie durch elektrische SUVs beenden zu können. In der wenige Menschen so reich sind, dass dagegen ganze Volkswirtschaften arm aussehen.

Auch in Deutschland konnte es zu einer bellizistischen Remedur kommen. Eine Remedur, die sich als Zensor auftut, der das Eintreten für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen sogar in eine rechts-nationalistische Ecke stellt. Der die Friedensbewegung als Putin-Versteher oder gar als 5. Kolonne Moskaus verunglimpft. Eine absurde Debatte, ähnlich der in Westdeutschland der 1950er-Jahre, als Adenauer die SPD mit „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“ zu diffamieren suchte. Der Kriegskonformismus negiert Differenzierungen, die Frieden braucht. Doch es fehlen die Begegnungs- und Austauschräume, die Vertrauen schaffen und Verhandlungen möglich machen. Wer für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen plädiert, darf von „Meinungssoldaten“ (Martin Walser) nicht an den Rand gedrängt werden.

Die bellizistische Remedur findet statt in dem Land, das in den 1960er- und 70er-Jahren Wegbereiter der Friedens- und Entspannungspolitik war, die zur Überwindung der deutschen und europäischen Spaltung führte. Ein Bellizismus in dem Land, das eine starke Friedensbewegung hatte und wo Anfang der 80er-Jahre nahezu jeder – außer Markus Söder, Friedrich Merz oder Agnes-Marie Strack-Zimmermann natürlich – auf den drei großen Friedensdemonstrationen im Bonner Hofgarten dabei gewesen sein will.

Schon deshalb lohnt ein Rückblick auf das Jahr 1968, als in der Tschechoslowakei die Warschauer-Pakt-Truppen den Reformkommunismus des „Prager Frühlings“ niederschlugen. Gewiss, das war eine Erhebung innerhalb des damaligen sowjetischen Machtbereichs, dennoch sind Parallelen unübersehbar. Am 22. August 1968 verurteilte Willy Brandt, damals Außenminister einer großen Koalition, diesen Akt der Willkür. Er sagte aber auch: „Mit starken Worten und gefühlvollen Appellen ist jetzt niemandem geholfen, weder unserem östlichen Nachbarn noch uns selbst. Es gilt nüchtern zu prüfen, was geschehen ist, was unsere Interessen gebieten und was sich für die europäische Politik ergibt. … Unsere Politik war und bleibt darauf gerichtet, alles Mögliche zu tun, um den Frieden sicherer zu machen und damit auch die Sicherheit der Bundesrepublik zu festigen, die Zusammenarbeit zwischen den Völkern zu verbessern und einer europäischen Friedensordnung den Weg zu ebnen.“ Diese Ziele, so Brandt, „bleiben auch dann richtig, wenn andere sich ihnen zu entziehen suchen.“

Die Entspannungspolitik basierte auf Vertrauensbildung und Kooperationsbereitschaft. Das wurde von den Vereinten Nationen aufgegriffen. Unter dem Vorsitz des damaligen schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme legte eine Unabhängige Kommission der UN-Generalversammlung 1982 das Konzept zur „Gemeinsamen Sicherheit“ vor. Die Palme-Kommission knüpfte an der Erkenntnis von Albert Einstein an, dass die Atombombe alles verändert habe, nur nicht das Denken der Menschen. Im Atomzeitalter darf Krieg niemals geführt und er kann niemals gewonnen werden. Deshalb muss alles getan werden, Kriege zu vermeiden, vor allem wenn die – inzwischen neun – Atommächte beteiligt sind. Angriffe auf Atomkraftwerke hätten verheerende Folgen. Aber auch „konventionelle“ Waffen erreichen eine ungeahnte Qualität an Zerstörung. Noch einmal Einstein: „Die Entwicklung der Technik in unserer Zeit macht das ethische Postulat des Friedens zu einer Existenzfrage für die zivilisierte Menschheit und die aktive Teilnahme an der Lösung des Friedensproblems zu einer Gewissenssache, der kein der moralischen Verantwortung bewusster Mensch ausweichen kann“.

Weltsicherheit: Wir sind auf Zusammenarbeit angewiesen

Was in den 1980er-Jahren die drei Unabhängigen Kommissionen der Uno – Gemeinsame Sicherheit, Nord-Süd-Solidarität, Nachhaltigkeit – herausgearbeitet haben, aber in der Remedur unerwähnt bleibt, ist: Die zusammengewachsene Welt ist, um eine gute Zukunft zu haben, auf Gemeinsamkeit angewiesen. Die globalen Herausforderungen, insbesondere die Klimakrise, sind nur in Zusammenarbeit aller Staaten einschließlich Russlands und Chinas zu bewältigen, um die Stabilität des Erdsystems zu sichern, von der menschliches Leben abhängt.

Für eine solche „Weltinnenpolitik“ (Carl Friedrich von Weizsäcker) hatte das historische Jahr 1989, das Ende der in Ost und West geteilten Welt, einzigartige Chancen eröffnet. Im November 1990 wurde die „Charta von Paris für ein neues Europa“ von allen europäischen Staaten sowie von den USA und Kanada unterzeichnet, sie hatte das Ziel einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung vom Ural bis Lissabon. Doch das Fenster für eine friedliche Zukunft Europas wurde nicht geöffnet. Der Westen sah sich als Sieger der Geschichte, nicht zuletzt durch militärische Stärke. Die Sowjetunion löste sich auf, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten verlor an Bedeutung. Russland musste seine Rolle neu finden.

Für Deutschland kann die Abwendung von der Entspannungspolitik und die bellizistische Remedur auf das Jahr 2013 datiert werden. Schon während des Irakkriegs 2003 und des libyschen Bürgerkriegs 2011 gab es kritische Stimmen zu der deutschen Zurückhaltung bei Militäreinsätzen. Die Stiftung Wissenschaft und Politik und der German Marshall Fund oft the United States setzten unter der Leitung von Markus Kaim und Constanze Stelzenmüller eine 50-köpfige Arbeitsgruppe aus Politikern, Journalisten, Militärs und verschiedener „Thinktanks“ ein, die im September 2013 ein Grundsatzpapier vorlegte. Der Titel: „Neue Macht – Neue Verantwortung – Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch“.

Das 48-seitige Papier will eine neue „Denklandschaft“ erzeugen, bestehende Tabus gegen „militärische Gewalt“ beseitigen und international für Deutschland eine Führungsrolle in der Nato proklamieren. Dazu gäbe es keine Alternative für Deutschland, das extrem abhängig von Rohstoffen ist und durch weltweite Handelswege und die internationale Arbeitsteilung verwundbar in Freiheit und Wohlstand. Passagen in dem Papier klingen wie die der amerikanischen Neocons (New Conservative Revolution), die unter Präsident George W. Bush eine zentrale Rolle in der Außen- und Sicherheitspolitik einnahmen. Ihre Ideologie hieß „Frieden durch Stärke“. Bei dem mit einer Lüge begründeten Angriffskrieg auf den Irak von 2003 teilten sie die EU in ein „altes“ und ein „neues“ Europa (Koalition der Willigen) ein.

In dem Papier der deutschen „Kulturelite“ sind zentrale Schwächen und Leerstellen unübersehbar. Die Autoren gehen davon aus, dass „der Westen stark an Einfluss und Bedeutung verliert“ und „Amerikas Engagement in der Welt künftig selektiver und sein Anspruch an die Partner entsprechend höher sein wird“. Ihr Fazit ist eine militärische Stärkung, weil nur so Deutschland, Europa und der „Westen seine auf Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Demokratie beruhende Legitimität“ sichern und künftig wieder eine gestärkte Rolle einnehmen könnten.

Es irritiert, dass die Autoren nicht der Frage nachgehen, was die Ursachen für die Zäsur von 1990 waren und wie eine Weltinnenpolitik aussehen muss, die auf den Grundsätzen des Völkerrechts und der Solidarität aufbaut. Stattdessen wird der Eindruck erzeugt, mit einer weiteren militärischen Aufrüstung könne das Leben in seiner „freien, friedlichen und offenen Ordnung“ so bleiben, wie es ist. Das ist realitätsfern auf unserer „ungleichen, überbevölkerten, verschmutzten und störanfälligen Welt“ (Brundtland-Bericht), in der es eben nicht so bleiben darf, wie es ist. Die großen Herausforderungen der Zukunft können nur bewältigt werden, wenn die Spaltung der Welt nicht vertieft wird und es zu mehr Zusammenarbeit kommt.

Mehr Kant wagen: Den Frieden wiederherstellen

III.   Warum geht die Mehrheitsfähigkeit links-liberaler Parteien, die Träger der Friedens- und Entspannungspolitik waren, in die Brüche? In seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts („Das Zeitalter der Extreme“) vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion stellt der Historiker Eric Hobsbawm drei qualitative Veränderungen heraus:

1.     Das Ende des Eurozentrismus. Die Vorherrschaft Europas ist vorbei. Des Europas, das zu Beginn des Jahrhunderts das unangefochtene Zentrum von Macht, Wohlstand, Militär und Kultur in der Welt war. Heute blicken die meisten Länder in eine andere Richtung. Die westlichen Staaten Europas haben auch den Fehler gemacht, nach 1990 nicht eine engere Zusammenarbeit mit Russland zu suchen.

2.     Mit der Globalisierung als Annäherung aller Länder durch den Markt zu einer einzigen Funktionseinheit spitzen sich die sozialen und ökonomischen Verteilungskonflikte zu. Zudem haben sich die wirtschaftlichen Aktivitäten verändert, besonders durch den entfesselten Arbitrage- und Finanzkapitalismus und den technischen Fortschritt im Kommunikations- und Transportwesen, der die Gestaltungskraft der Nationalstaaten überfordert.

3.     Die alten Sozial- und Beziehungsstrukturen lösen sich auf und damit die Bindeglieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der radikale Individualismus, der das Erbe der Aufklärung nur selektiv aufgreift, destrukturiert die Gesellschaft. Die Kappung traditioneller Bindungen führt zur Erosion der Gesellschaften. Wir erleben eine Welt, in der wir Zugang zu mehr Fakten haben als je zuvor, wir aber dennoch immer weniger wissen, wie die Zusammenhänge aussehen und wohin die Reise führt.

Dabei hat Hobsbawm nicht einmal die ganze Dimension der heutigen Großen Transformation erfasst. Hinzu kommen nämlich zumindest zwei weitere wichtige Fakten, die für den britischen Universalhistoriker noch kein Thema waren:

4.     Die ökologischen Herausforderungen spitzen sich nicht nur mit der Klimakrise zu, sondern auch bei der Zerstörung der Biodiversität, der Verknappung wichtiger Ressourcen und den ungelösten Problemen der globalen Chemisierung. Das Erdsystem ist überlastet, nicht zuletzt durch die ungleiche Verteilung des Wohlstands. Die Verteilungskämpfe nehmen zu und mit ihnen auch Kriegsgefahren.

5.     Die Digitalisierung der Welt, einschließlich des Vormarsches der künstlichen Intelligenz (KI), verändert unser Leben. KI bedeutet die Fähigkeit einer Maschine, menschliche Fähigkeiten mit neuronalen Netzwerken zu imitieren. Auch in der Kriegsführung ergeben sich durch KI neue Gefahren, z.B. durch Drohnenschwärme und autonome Verteidigungssysteme.

Die in erster Linie von den Marktkräften vorangetriebenen zweite Große Transformationen verändert die Welt radikal. Die amerikanische Philosophin Nancy Fraser sieht entscheidende Ursachen in einem „progressiven Neoliberalismus“, der alles zur Ware macht, statt die Märkte sozial, ökologisch und demokratisch zu gestalten. Was zuerst widersprüchlich erschien, ist in den letzten Jahrzehnten Realität geworden. Dadurch werden die Bedingungen des globalen Kapitalismus gesamtgesellschaftlich durchgesetzt. Unser Verständnis von Fortschritt ist in eine tiefe Krise geraten. Die Gefahr wächst, militärische Antworten auf die Krisen zu geben.

Heute, in einer Phase der Menschheitsgeschichte, in der so viel gleichzeitig in die Brüche geht, ist ein neuer Zugang zur Bewältigung gesellschaftlicher Krisen und Konflikte notwendig. Umso wichtiger ist es, dass wir uns in einem kontrahegemonialen Projekt verorten, der uns von dem Konformismus befreit und eine lebendige Demokratie fördert.

Bei Alexander Kluge heißt es: Wir brauchen heute nicht nur die Tapferkeit vor dem „Dämon Krieg“, sondern auch „Tapferkeit vor dem Freund“. Kluge begründet das mit den Parallelen des Ukrainekrieges mit der „Julikrise von 1914“, als es durch die Unfähigkeit der europäischen Königshäuser und Regierungen, eine akute Krise zu bewältigen, zum Ersten Weltkrieg kam.

Kants Werke, ihre Nüchternheit und Gedankentiefe, seine Ethik der menschlichen Würde haben das Grundgesetz mitgeprägt. Seine Theorie des „ewigen Friedens“ hat den Völkerbund und die Entstehung der Vereinten Nationen beeinflusst. Seine Eigenständigkeit des Denkens hat eine kritische und historische Positionierung nachvollziehbar begründet. Wir brauchen „mehr Kant“. Das Wichtigste heißt: Frieden schaffen und die Tragödie des Sterbens, des Elends und der Zerstörung stoppen, auch das Leid der Familien und Angehörigen russischer Soldaten beenden sowie im weiteren Sinne aller Menschen, die unter der Knappheit und Verteuerung von Energie und Nahrungsmitteln leiden müssen.

Frieden ergibt sich, so Kant, aus der Übereinstimmung möglichst vieler Menschen für ein vernünftiges Wollen und Handeln. Die Regeln der Vernunft erfordern den moralischen Fortschritt der Menschheit für eine gerechte und friedliche Welt – zum eigenen Wohl sowie zum Wohl aller anderen. Das mag heute, wo die Welt wieder in konkurrierende Machtblöcke zu zerfallen droht, realitätsfern erscheinen. Doch welche Alternative gibt es zu „mehr Kant wagen“ in einer Welt, die auf Kooperation und Gemeinsamkeit angewiesen ist? Wir brauchen den Mut zur Mündigkeit, um in einem wirklichen Diskurs, den die Demokratie braucht wie die Luft zum Atmen, wieder Klarheit zu schaffen. Wir müssen friedensfähig sein für ein Ende der Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen und der blutigen Konflikte anderswo auf der Welt.

Autoren:
Michael Müller, Bundesvorsitzender der Naturfreunde, Parl. Staatssekretär im Bundesumweltministerium
Prof. Dr. Peter Brandt, Historiker, Vertreter der Initiative „Neue Entspannungspolitik jetzt!“
Reiner Braun, Präsident des Internationalen Friedensbüros

 

 

 

 

 

 

 

 

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