Das nachfolgende Interview erschien am 17.10.2025 in der Berliner Zeitung (hinter Bezahlschranke) unter dem Titel: „Wir waren selten so nah an einem großen Krieg“ – Friedensaktivisten warnen vor Eskalation mit Russland.
Das Gespräch führte Raphael Schmeller.
Redaktioneller Vorspann der BZ:
Im Interview mit der Berliner Zeitung sprechen die Friedensaktivisten Reiner Braun und Michael Müller über den Ukrainekrieg, Europas Friedenskrise und die Gefahr wachsender Militarisierung.
Die Friedensbewegung hat in den vergangenen Wochen Zehntausende Menschen mobilisiert – doch gemessen an den globalen Krisen bleibt ihr Einfluss begrenzt. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung analysieren Reiner Braun und Michael Müller, zwei der prominentesten Stimmen der deutschen Friedens- und Umweltbewegung, warum es so schwer ist, eine neue Generation für Frieden und Abrüstung zu gewinnen. Sie sprechen über die Ursachen des Ukrainekrieges, die Schwäche Europas, die Rolle der Medien – und darüber, warum sie trotz allem an die Kraft gesellschaftlicher Bewegungen glauben.
Herr Braun, Herr Müller, Ihre beiden Organisationen haben am 3. Oktober Friedensdemonstrationen mitorganisiert. Wie zufrieden sind Sie mit der Mobilisierung?
Reiner Braun: Man muss die gesamten letzten Wochen sehen. Es gab drei große Aktionen: am 13. und am 27. September – mit bis zu 100.000 Menschen – sowie am 3. Oktober in Berlin und Stuttgart mit zusammen rund 35.000. Dazu kamen viele kleinere Aktionen. Insgesamt ist das ordentlich, aber weit entfernt von dem, was wir angesichts der militaristischen Zuspitzung brauchen. Wir waren selten so nah an einem großen Krieg und an innerer wie äußerer Zerstörung durch Militarismus. Darauf gibt es noch keine gesellschaftliche Antwort. Diese zu entwickeln ist Aufgabe der Friedensbewegung, aber auch von Gewerkschaften, Kirchen, Sozial- und Umweltverbänden.
Michael Müller: Von denen war zuletzt leider zu wenig zu hören.
Warum gelingt es der Friedensbewegung nicht, mehr Menschen zu mobilisieren?
Reiner Braun: Soziale Bewegungen entstehen nicht am Reißbrett. Eine Idee muss die Menschen ergreifen. Außerdem wirken Gegenkräfte: Erstens die neoliberale Ideologie des Individualismus, die Solidarität schwächt. Zweitens unterschätzen viele die Wirkung großer Kampagnen. Die permanente Wiederholung „der Russe ist an allem schuld“ bleibt nicht ohne Wirkung. Diese Narrative zu kontern ist eine geistig-politische Aufgabe. Sie gelingt nicht von heute auf morgen. Wir müssen die aufklärende Rolle der Friedensbewegung stärker in den Mittelpunkt stellen und stärker ein gemeinsames kollektives Verantwortungsbewusstsein entwickeln,
Auf den Friedensdemonstrationen trifft man vor allem viele Menschen, die schon in den 1980er-Jahren protestiert haben. Was braucht es, um eine neue Generation von Friedensaktivisten zu gewinnen?
Michael Müller: Zunächst das Bewusstsein, dass selten so viel gleichzeitig zerbricht wie heute. Da nützen keine Pflaster mehr. Der Ukrainekrieg beschleunigt Entwicklungen, die längst in der Gesellschaft angelegt waren: der Kampf um eine neue Weltordnung, das Ende des alten fordistischen Zusammenhalts, die Erosion einer aufgeklärten Öffentlichkeit, die den „Mut zur Mündigkeit“, wie Kant es nennt, hatte. Wir führen kaum noch echte gesellschaftliche Diskurse. Kulturelle, soziale und ökonomische Faktoren zeigen: Das alte Modell des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist vorbei, national und international verschärfen sich Konflikte. Der russische Angriff ist durch nichts zu rechtfertigen, aber unsere Reaktion darauf bleibt oft arrogant und überheblich.
Reiner Braun: Die Lage ist extrem komplex: neue Weltordnung, überlappende Konflikte, multiple Krisen. Das verunsichert viele, führt zu Resignation und Rückzug. Zwei Ansatzpunkte sehe ich: Erstens die Wehrpflicht stärker thematisieren, die 70 bis 80 Prozent der jungen Menschen ablehnen. Zweitens die soziale Dimension der Hochrüstung betonen: Die Militarisierung führt zu Sozialabbau, mit Folgen, die heute kaum zu erahnen sind. Es geht auch um Summen, die kaum vorstellbar ist, oder wissen wir wirklich, was eine Billion für Rüstung in Europa real bedeutet. Wenn etwa Betten in Berliner Kliniken militärischen Erfordernissen untergeordnet werden sollen, widerspricht das ärztlicher Ethik. Gleichzeitig werden Arbeitsplätze mit Verweis auf Kriegsproduktion abgebaut, die allerdings weitaus weniger Jobs schafft. Das erzeugt Betroffenheit und Widerstand. Unsere Aufgabe ist, diesen Widerstand zu politisieren und auf den Zusammenhang mit Militarismus hinzuweisen.
Was lernen Sie aus den 1980er Jahren und was unterscheidet die Situation von damals?
Reiner Braun: Direkte Vergleiche führen in die Irre. Gesellschaftsklima und internationale Lage waren andere: Blockkonfrontation, Solidaritätsidee und Gorbatschow als subjektiver Faktor. Heute erleben wir eine tiefgreifende weltpolitische Krise, deren Dynamik wir erst ansatzweise begreifen. Mobilisierung ist auch angesichts einer einseitigen Regierungspolitik nachbetenden Presse schwieriger, Social Media prägen alles, rechtsradikale Kräfte sind global stärker als in den 80ern. Die zentrale Lehre bleibt: die Friedensbewegung war erfolgreich, weil sie gesellschaftlich verankert war. Helmut Kohl schrieb in seinen Memoiren sinngemäß, er hätte den Widerstand gegen die Pershing-II-Stationierung keine acht Wochen länger durchgehalten, so groß war der gesellschaftliche Druck der Friedensbewegung.
Michael Müller: In den 80ern wurden auch programmatisch große Ideen stark: Nord-Süd-Solidarität, „Gemeinsame Sicherheit“ als Leitlinie der Friedenspolitik und die Idee der Nachhaltigkeit. Das waren Grundideen der europäischen Sozialdemokratie, heute spielt sie kaum noch eine Rolle. Das ist ein zentraler Unterschied: die „linke Mitte“, die der Gesellschaft Stabilität und Zusammenhalt gegeben und eine starke Linke möglich gemacht hat, löst sich auf. Wir brauchen ein neues Fortschrittsmodell.
Zuletzt haben sich viele Menschen für Gaza mobilisiert. Hilft das der Friedensbewegung?
Reiner Braun: Ja, die Palästina Solidarität hat der Friedensbewegung insgesamt Auftrieb gegeben, besonders auch in den USA. Die großen Aktionen sind ein herausragendes Zeichen des Protestes gegen eine Völker mordende Politik Israels und die Unterstützung durch die Bundesregierung, ein tiefer Ausdruck von Humanismus und Verantwortung sowie von Mut gegen scharfe Repressionen. Aber „Gaza“ ist nur ein Teil. Solidarität dort ersetzt nicht sondern fordert konsequenterweise die Beschäftigung mit den sozialen Folgen der Hochrüstung hier.
Michael Müller: Das alte Wachstumsmodell, das eine stabile, mobile Mitte ermöglichte, trägt nicht mehr. Wir haben ökologische Grenzen erreicht, die wir nicht überschreiten dürfen. Auch die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Die Frage lautet heute: Wie organisiert man auf der zusammengewachsenen Welt den gesellschaftlichen Zusammenhalt angesichts ökologischer Grenzen und bei offenen Märkten? Ohne eine Debatte über die Ursachen der multiplen Krisen wird die Friedensbewegung nicht wachsen und der Bellizismus zunehmnen.
Sie kritisieren einen „Meinungskonformismus“ in den Medien. Was meinen Sie damit?
Reiner Braun: In den 80ern war die Medienlandschaft pluraler, weil auch die Gesellschaft offener und kritischer war. Teile standen der Friedensbewegung wohlwollenderer gegenüber: Spiegel, Stern, Frankfurter Rundschau.
Michael Müller: Heute ist die große Mehrheit der Medien eher Einpeitscher des Bellizismus. Sie treiben die Politik in Richtung Militarisierung der Politik, wo es doch in erster Linie um Diplomatie gehen muss. Paradox ist: Viele Journalisten, die heute laut für Waffenlieferungen eintreten, erzählen zugleich, wie stolz sie auf die Friedensdemos der 1980er sind. „Mut zur Mündigkeit“ braucht auch der Journalismus. Ohne aufgeklärte Medien gibt es keine Friedenspolitik.
Sie sagen: „Krieg ist immer falsch.“ Welche Konsequenz folgt daraus für ein Land wie die Ukraine, das angegriffen wurde?
Reiner Braun: Es gab Chancen, den Krieg zu verhindern, noch vor seinem Ausbruch; Frau Merkel hat das kürzlich angedeutet. Dann gab es Chancen, ihn früh einzudämmen, Stichwort Istanbul-Verhandlungen. Das wurde vom Westen, also der Nato, nicht gewollt. Nach dem Scheitern von Istanbul wurde der Krieg zum Stellvertreterkrieg zwischen Nato und Russland. Zu überwinden ist er heute nur, wenn beide Seiten begreifen, dass er militärisch nicht zu gewinnen ist. Dorthin nähern wir uns: Beide können einander zerstören. Daraus entstehen Verhandlungsfenster, mit Initiativen, teils aus Brasilien und China, teils mit Blick auf Trump. Die Ukraine wird den Krieg militärisch nicht gewinnen, Russland allein auch nicht. Ergebnisse werden kommen, die dramatischen Opferzahl gebietet allerdings Eile.
Können Sie erläutern, was Sie meinen, wenn Sie vom „Stellvertreterkrieg zwischen Nato und Russland“ in der Ukraine sprechen?
Michael Müller: Der Krieg hat eine Vorgeschichte. Im Westen wurde die Ukraine immer wieder als Hebel gegen Russland gesehen. Keine Entschuldigung für den Krieg, aber eine Erklärung. Beenden lässt sich der Krieg nicht ohne Vermittlung der BRICS-Staaten. Der Westen muss akzeptieren: Gegen China, Indien, Russland, Brasilien, Südafrika gibt es keine funktionierende Weltpolitik. Es braucht eine multipolare Ordnung auf Augenhöhe. Konkret muss ein realistischer europäischer Friedensvorschlag entwickelt werden, der nicht das bloße „Zurück zum Status vor dem 24. Februar 2022“ ist. Die EU müsste eine künftige gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur skizzieren und auf dieser Basis für eine Vermittlung wichtiger BRICS-Staaten werben. Fakt ist: Die EU hat dreieinhalb Jahre nichts vorgelegt. Eine Art „Baker-Kommission“ wie nach dem Irakkrieg würde wohl erschütternde Wahrheiten über Opferzahlen und ihre soziale Herkunft offenlegen. Erst den Krieg einfrieren, dann verhandeln und eine gesamteuropäische Friedenslösung anbieten, die den Interessen aller Beteiligten gerecht werden kann.
Reiner Braun: Ich bin gegenüber der EU skeptischer. Für mich ist sie Teil des Problems.
Woran machen Sie Ihre EU-Skepsis fest?
Reiner Braun: An Positionen und Tonlage: Aussagen von Frau von der Leyen, das Verhalten von Frau Kallas – beides zuspitzend statt deeskalierend. Grenzprovokationen werden zurzeit aufgeblasen, als stünde „der Russe“ schon in Berlin.
Michael Müller: Unbestritten. Aber BRICS wird nicht handeln, solange Europa schwächelt. Warum sollte China eingreifen, wenn europäische Schwäche dem eigenen Einfluss nutzt? In der internationalen Politik geht es zuerst um Interessen. Europa muss sich zuerst bewegen. Das die europäische Kommission wie auch der Rat eklatant versagen, ist leider eine bittere Wahrheit.
Sehen Sie Persönlichkeiten in Europa, die die Lage drehen könnten?
Michael Müller: Ein „neuer Gorbatschow“ ist nicht in Sicht, aber so etwas weiß man nie. Sicher ist: Wenn alles so bleibt, verliert die EU dramatisch an Bedeutung. Auch Deutschland kann diese Summen, die von Selenskyi ununterbrochen gefordert werden, nicht mehr stemmen.
Sie sprechen von Gorbatschow. Sehen Sie Parallelen zwischen den späten Jahren der Sowjetunion und dem heutigen Zustand der Europäischen Union?
Michael Müller: Die Ausgangslagen sind verschieden. Aber auch die Sowjetunion zerbrach neben Tschernobyl an ihren Militärkosten. Wenn heute fünf Prozent des BIP fürs Militär veranschlagt werden, wird das die Gesellschaft sozial zerreißen, ähnlich wie damals in der Sowjetunion. Und es wird zum ökologischen Zusammenbruch des Erdsystems beitragen, deren Folgen schon bald erbitterte Verteilungskämpfe und neue Gewalt auslösen werden. Kurz: Wir sind an einem Scheidepunkt. Die sozial-ökologische Gestaltung der Transformation muss die Zeitenwende sein, nicht die Militarisierung der Wohlstandsoasen.
Die Politiker in Europa müssten das doch auch sehen. Warum gibt es trotzdem keine ernsthafte europäische Friedensinitiative für die Ukraine?
Reiner Braun: Weil es nicht nur um die Ukraine geht, sondern es ein Kampf um die Neuordnung der Welt ist. Unsere Politik glaubt, an der Seite der USA den eigenen alten, hegemonialen Einfluss zu retten – und versucht dafür Gegenkräfte zu schwächen, vor allem China in Verbindung mit Russland. Das ist die materielle Logik eines Profitsystems, das glaubt, nur so überleben zu können. Dazu gehört auch das Festhalten am Neokolonialismus, dem aber nur noch der globale Westen verbunden ist.
Michael Müller: Hinzu kommt: Der politische Beratungs-Kosmos ist klein und eng, eine Blase. Universitäten produzieren Spezialwissen, aber zu wenig Verständnis für Zusammenhänge. Kritische Theorie ist zurückgegangen. Medien – darüber sprachen wir – sind zunehmend unkritisch. Früher zwang gesellschaftlicher Diskurs selbst eine bürgerliche Partei zu sozialen Akzenten. Das fehlt heute.
Sie sagen, es ist ein Kampf um die Neuordnung der Welt. Kann der Westen diesen gewinnen?
Reiner Braun: Meine persönliche Einschätzung, nachdem ich dieses Jahr in den USA, Russland und China war: Der Westen kann diesen Kampf nicht gewinnen, es sei denn, er riskiert die atomare Vernichtung. In großen Teilen der Welt prägen Eigenständigkeit, Selbstbestimmung und Zuversicht die Mentalität. In China ist die Stimmung völlig anders als bei uns. Vielleicht erklärt das auch den Militarismus hierzulande: Man weiß, dass man ökonomisch und politisch nicht gewinnen kann, zieht aber nicht die logische Konsequenz – Partnerschaft, Kooperation, Überlebensfragen des Planeten gemeinsam lösen –, sondern setzt auf die militärische Flucht nach vorn.
Michael Müller: Europa könnte eine Rolle spielen mit einer überzeugenden sozial-ökologischen und demokratischen Gestaltung der Transformation, die heute die Gesellschaften erschüttert. Würde Europa wieder zum Vorbild eines zukunftsfähigen Gesellschaftsmodells, hätte es Gewicht. Heute repräsentiert es aber ein Modell der Vergangenheit.
Wie optimistisch sind Sie, dass in Europa ein solches neues Projekt entsteht?
Reiner Braun: Als Friedensbewegter muss man optimistisch sein, und es gibt auch Gründe dafür. Wenn es gelingt, in den Nato-Kernländern eine Friedensbewegung im Sinne einer gesellschaftlichen Bewegung aufzubauen, kann sie Stütze der Kräfte werden, die eine multipolare, friedlichere und gerechtere Welt anstreben – im Globalen Süden, bei den BRICS. Gelingt diese historisch neuartige Konstellation, lassen sich kriegstreibende Dynamiken auch hier eindämmen. Es gibt Ansätze, auch mit Regierungen des globalen Südens. Ich bin optimistisch, dass wir das schaffen können. Es kommt aber entscheidend auf das eigene Handeln an.
Michael Müller: Entscheidend ist, dass die Friedens-, die soziale und die ökologische Bewegung als gesellschaftliche Reformbewegung in eine gemeinsame Richtung gehen und auch möglichst gemeinsam ihre Zukunftspositionen vertreten. Ein „dritter Weg“, glaubwürdig formuliert und praktisch angelegt. Ich bin sicher: Ein großer Teil der Bevölkerung würde mitgehen.