Bericht aus der Arbeitsgruppe mit Reiner Braun am 1.10.2023 im Rahmen der Konferenz „Frieden schaffen!“, entwickelt von Peter Brandt, Reiner Braun, Reiner Hoffmann, Michael Müller An der Arbeitsgruppe „Globalstrategische Veränderungen – wie muss eine multipolare Welt aussehen?“ im Rahmen der Frankfurter Konferenz „Frieden schaffen“ beteiligten sich rund dreißig Menschen aus verschiedenen Friedensinitiativen, Gewerkschaften, Verbänden und Parteien. Nach einem kurzen Input von Reiner Braun zu geostrategischen Veränderungen hin zu einer multipolaren Weltordnung diskutierten die Teilnehmer über Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Friedenspolitik und Chancen und Risiken für die friedensbewegte deutsche Zivilgesellschaft. In seinem kurzen Input erläuterte Reiner Braun die ökonomischen Hintergründe der geostrategischen Veränderungen hin zu einer multipolaren Weltordnung mit neu erstarkten BRICS-Staaten, insbesondere das Aufbrechen oder Verschieben ökonomischer Abhängigkeiten. Mit dem Niedergang der ökonomischen Dominanz des westlichen Kapitalismus verlieren die USA und die EU an wirtschaftlicher Bedeutung während vor allem Chinas Bedeutung als Wirtschaftspartner wächst. Diese Machtverschiebung wird verstärkt durch den Anstieg der Preise für Rohstoffe, wodurch das Handelsvolumen der Länder des globalen Südens zunimmt. Wirtschaftliche Alternativen im Außenhandel wie bei den ausländischen Investoren (China, Russland, etc) erlauben vielen Ländern des globalen Südens eine Abkehr vom neo-kolonialen Extraktivismus, also von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen zum Nutzen globaler Firmen und es entsteht vielerorts ein neuer Souveränismus, im Zuge dessen z.B. afrikanische Regierungen mit ehemaligen Kolonialmächten wie Frankreich brechen. Die erweiterte BRICS-Gruppe (BRICS+6) repräsentiert rund 46 Prozent der Weltbevölkerung, sowie alle großen Ölproduzenten der Welt außer den USA. Der Prozess der globalen Entkolonisierung hin zu einer globalen Multipolarität ist dynamisch und ambivalent, nicht zuletzt aufgrund imperialer Bestrebungen mancher Länder des Südens wie z.B. Indien. Außenpolitik bleibt auch in einer multipolaren Welt weiterhin Interessenspolitik und damit i.d.R. bar jeder Moral. Friedenspolitisch birgt die aufkommende multipolare Weltordnung Chancen und Risiken. Eine Welt friedlicher souveräner Demokratien ist ebenso möglich wie ein kriegerischer Multilateralismus mit neu aufbrechenden offenen Klassenkämpfen innerhalb von Staaten, über Staatsgrenzen hinweg oder zwischen Staaten. Laut Einschätzung von Reiner Braun bleibt die Umbruchssituation während des langsamen Niedergangs des westlichen Kapitalismus auf absehbare Zeit dynamisch. Allerdings zeugen die aktuellen Friedensinitiativen aus dem globalen Süden (u.a. aus China und Brasilien) von einem gewissen friedenspolitischen Potenzial des neuen Multilateralismus. Auch zwingt der Ukraine-Krieg Regierungen verstärkt zu einer eigenen Positionierung und führt vor allem die BRICS-Staaten zu neuer Einheit, zusätzlich verstärkt durch die diplomatische Untätigkeit (und eskalierende Kriegspolitik) der EU und der USA sowie deren ablehnende Haltung gegenüber Friedensinitiativen aus dem globalen Süden. Die US-Strategie, Russland durch den Ukraine-Krieg zu schwächen, ist gescheitert.
Mehrere Diskussionsteilnehmer äußerten ihr Erstaunen über die einseitige transatlantische Ausrichtung der deutschen Bundesregierung angesichts offensichtlicher Verschiebungen globaler Machtverhältnisse. Es bestand Einigkeit in der Arbeitsgruppe, dass die einseitige Orientierung der Bundesregierung auf US-Interessen und politische Strategien aus Washington den Interessen der in Deutschland lebenden Menschen widerspricht und eine insbesondere für junge Menschen fatale Politik der Aufrüstung, der Deindustrialisierung, und der außenpolitischen Eskalation betreibt. Die totale Unterordnung der deutschen Bundesregierung unter NATO-Interessen steht im krassen Gegensatz zum erstarkenden Selbstbewusstsein der Länder des globalen Südens. Scheinbar sind die Regierungen der meisten EU-Staaten immun gegen den neuen Souveränismus der ehemaligen Kolonien und ergreifen nicht einmal eigene diplomatische Initiativen, um den Kontinent zu befrieden. (Die Arbeitsgruppe fand vor dem Regierungswechsel in der Slowakei statt, bei welchem die Ablehnung von Waffenlieferungen tatsächlich wahlentscheidend war.) Die Diskussion zeigte Chancen auf, die sich aus dem aufkommenden Multilateralismus für die friedensbewegte Zivilgesellschaft in Deutschland ergeben. Laut Umfragen lehnt eine Mehrheit der Menschen hier im Lang den transatlantisch inspirierten Kriegskurs der Bundesregierung ab. Es besteht also ein enormes Protestpotenzial, insbesondere bei der Verknüpfung des Friedensthemas mit der sozialen Frage. Hindernisse für die Mobilisierung sind die politische Passivität junger Erwerbstätiger wie auch der Verbände des deutschen Mittelstandes, also der Gruppen, welche die Politik der Aufrüstung bei gleichzeitigen Kürzungen bei Infrastruktur und Sozialleistungen sowie die fortschreitende Deindustrialisierung am meisten betrifft. Für die Schwierigkeiten in der Mobilisierung junger Menschen machten einzelne Diskussionsteilnehmer vor allem die massiven Repressalien verantwortlich (Cancel Culture, Diffamierungen), welche für berufstätige Oppositionelle, also auch für Friedensaktivisten, existenzbedrohend sind. Die Arbeitsgruppe diskutierte kontrovers über das Ausmaß und die Relevanz von Kapitalverflechtungen zwischen den USA und deutschen Unternehmen (Dominanz amerikanischer Investorengruppen z.B. bei in Rheinmetall) sowie deutschen Funktionseliten (politischer Einfluss amerikanisch dominierter Stiftungen wie Agora Energiewende). Viele langjährige Aktive der deutschen Friedensbewegung sahen die aus ihrer Sicht selbst im Vergleich mit den Siebziger Jahre mehr je denn gleichgeschaltete deutsche Presselandschaft als massives Hindernis für einen effektiven Friedensdiskurs und für die Mobilisierung von Protest. Reiner Braun verwies zum Schluss auf die für den 25. November geplante Friedensdemo der Ukraine-Initiative „Die Waffen nieder!“ in Berlin, welche den einseitig auf Aufrüstung ausgerichteten Haushaltsplan 2024 der Bundesregierung zum Anlass nimmt für lagerübergreifenden Protest gegen die unsoziale deutsche Kriegspolitik.
(Protokoll: Mona Aranea, Friedensbündnis NRW, )