KRIEG KENNT KEINE GRENZEN

Artikelbeitrag für die Berliner Zeitung vom 1.4.2023

Der Ukraine-Krieg ist für Europa ein Rendezvous mit dem Schicksal. Er bedeutet nicht nur Leid, Zerstörung und Tod, er stellt auch die Weichen für die Weltordnung. Die Autoren plädieren für eine Zukunft in gemeinsamer Sicherheit.

PETER BRANDT / REINER BRAUN / REINER HOFFMANN / MICHAEL MÜLLER

In der Geschichte der Menschheit gibt es immer wieder Umbrüche von historischer Tragweite. Sie fordern uns in besonderer Weise heraus, Verantwortung für die weitere Zukunft zu übernehmen. Derart fundamentale Ereignisse, die an den anthropologischen Konstanten unseres Lebens rütteln, beschrieb der 32. Präsident der USA Franklin Delano Roosevelt als „Rendezvous mit dem Schicksal“. Heute erleben wir in kurzen Abständen sogar mehrere. Schon heute können wir von einem Jahrzehnt der Extreme sprechen, in dem die Befürchtung zunimmt, dass es zum gefährlichsten seit Ende des Zweiten Weltkrieges wird. Zuerst wurden wir vom Lock-down der Corona- Pandemie getroffen, der tiefe Spuren im Bildungswesen und in den sozialen Strukturen hinterlassen hat. Dann kehrte mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Elend, Tod und Zerstörung auch nach Europa zurück und verändert weit über die Kriegsparteien hinaus die Welt. Und schon bald werden wir mit der Wucht der heraufziehenden globalen Klimakrise konfrontiert sein, deren negative Synergien kaum vorstellbar sind.

Unsere Gedanken gehören zuerst den betroffenen Menschen in der Ukraine, die unter dem Krieg leiden, verletzt oder getötet wurden. Unser Mitgefühl ist auch bei den Familien und Angehörigen der gefallenen oder schwer verwundeten Soldatinnen und Soldaten. Seit mehr als einem Jahr tobt der Krieg. Die furchtbare Dynamik des Krieges, der bereits zu einem blutigen Stellungskrieg geworden ist, muss gestoppt werden. Er birgt die Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalationsdynamik in sich – bis hin zum Einsatz von Atomwaffen. Die eindringliche Warnung von Jürgen Habermas vor einem Nuklearkrieg ist berechtigt. Die wichtigsten Aufgaben heißen deshalb: schnell zu einem Waffenstillstand kommen und Verhandlungen für konkrete Schritte zu einem stabilen Frieden in der Ukraine aufnehmen mit dem Ziel, eine nachhaltige Sicherheitsordnung zu vereinbaren. Die Charta von Paris für ein neues Europa kann dafür der Wegweiser sein.

Gerade wegen des Ukraine-Kriegs bekennen wir uns zur Friedens- und Entspannungspolitik. Wir sehen keinen Grund, uns von dieser großen Leitidee der Außen- und Sicherheitspolitik zu distanzieren. Den Anstoß gab 1963 US-Präsident John F. Kennedy mit seiner „Strategie für den Frieden“. Der Ukraine-Krieg darf kein Anlass sein, alte Auseinandersetzungen zu wiederholen. Im Gegenteil: Die Entspannungspolitik gehört zu den wichtigsten Errungenschaften unserer jüngeren Geschichte. Ohne die deutsche Ost- und Entspannungspolitik wäre es nicht vorstellbar gewesen, dass die Menschen in der früheren DDR die Kraft zu ihren Montagsdemonstrationen gefunden hätten. Ohne sie wäre es nicht zu wichtigen Vereinbarungen für Abrüstung und Rüstungskontrolle gekommen. Ohne sie wäre nicht die Hoffnung auf ein geeintes Europa gewachsen.

Die deutsche und europäische Entspannungspolitik war für die Vereinten Nationen der Grund, 1980 die Unabhängige Kommission „Gemeinsame Sicherheit“ unter der Leitung des damaligen schwedischen Regierungschefs Olof Palme einzusetzen, die 1982 ihre Empfehlungen vorlegte. Heute müssen wir uns an deren Grundsätze und Empfehlungen erinnern, denn das alte paneuropäische Sicherheitssystem ist zerbrochen. Uns droht ein neuer Kalter Krieg, nicht nur zwischen Russland und dem Westen, sondern mehr noch der NATO gegen die neue Supermacht China. Zugleich werden wir mit neuen globalen Bedrohungen konfrontiert. In der geologischen Erdepoche des Anthropozäns, in die wir bereits eingetreten sind, wird die ökologische Selbstvernichtung der Menschen denkbar. Der Mensch ist vom Objekt zum Subjekt der Natur geworden. Und mehr denn je auf Kooperation und Verständigung angewiesen. Doch tatsächlich dominieren Aufrüstung und Konfrontation.

Die Anfänge der Sicherheitsordnung der Nachkriegszeit gehen zurück auf die Kuba-Krise von 1962. Damals kamen die atomaren Supermächte UdSSR und USA einer direkten militärischen Konfrontation sehr nahe. Auslöser des explosiven Konflikts war die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba. Im atomaren Rüstungswettlauf des Kalten Krieges, der Mitte der 1950er Jahre begann, hatten die USA zuvor 1959 insgesamt drei Staffeln mit nuklear bestückten Mittelstreckenraketen in Italien und in der Türkei stationiert. Ein Erstschlag wurde von den Militärs auf beiden Seiten nicht ausgeschlossen. Unter dem Decknamen Anadyr verlegte Moskau, um das strategische Defizit gegenüber den USA zu verringern, 42.000 sowjetische Soldaten sowie 42 Mittelstreckenraketen (Reichweite bis 4.500 km) mit rund 80 Atomsprengköpfe nach Kuba, dem neuen sozialistischen Staat vor der Haustür der USA. Im August des Jahres entdeckten die USA bei Aufklärungsflügen Raketenabschussanlagen in der Provinz Pinar del Rio.

Während die amerikanische Militärführung auf sofortige Luftangriffe und eine Invasion der pazifischen Insel („der rote Hund gräbt im Hinterhof der USA“) drängte, blieb Präsident John F. Kennedy zurückhaltend. Er verfügte eine Seeblockade, um die Waffenlieferungen nach Kuba zu stoppen. Daraufhin forderte Kubas Staatschef Fidel Castro im Falle einer amerikanischen Invasion von Moskau die Zusage eines atomaren Erstschlags gegen die USA. Der Generalsekretär der KPdSU Nikita Chruschtschow lehnte ab: „Ich halte Ihren Vorschlag für unkorrekt“.

Die UdSSR war sich des Risikos eines Atomkrieges bewusst. Das sowjetische U-Boot B-59, das zusammen mit drei anderen die Transportschiffe nach Kuba begleitete, wurde von der amerikanischen Marine zum Auftauchen gezwungen. Es hatte ein Nukleartorpedo einsatzbereit an Bord. Es kam deshalb nicht zu einem Atomschlag, weil der Offizier Wassili Archipow, der auf dem Boot die Befehlsgewalt über die Atomwaffe hatte, nicht ohne eine zusätzliche Anweisung aus Moskau auf den Knopf drücken wollte. Nachdem Präsident Kennedy über seinen Bruder Robert direkten Kontakt mit dem sowjetischen Botschafter Anatoli Dobrynin aufnahm und – wie später bekannt wurde – einem Abzug der Jupiter-Raketen aus der Türkei und Italien zustimmte, lenkte Chruschtschow ein. Die Krise war beendet. Sie führte zu neuen Beziehungen zwischen den beiden militärischen Supermächten, zu einer beiderseitigen Entspannungspolitik. Washington nannte das Flexible Response, Moskau proklamierte die friedliche Koexistenz.

Als Schlussfolgerung aus der Krise verkündete Kennedy in einer Grundsatzrede am 10. Juni 1963 an der American University die „Strategie für den Frieden“, um statt mit der militärischen Überlegenheit der USA eine „Pax Americana“ durchzusetzen. Kennedy betonte, dass es zwischen beiden Ländern gemeinsame Sicherheitsinteressen gäbe. Deshalb müsse es zu einem Prozess friedlicher Veränderungen kommen, andernfalls würde „alles was wir aufgebaut haben, in den ersten 24 Stunden zerstört.“ Seine Konsequenzen hießen Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzungen. Die „Pax Atomica“ wurde bis zum historischen Jahr 1989 zur entscheidenden Grundlage, dass aus dem Kalten Krieg kein heißer Krieg wurde. Helmut Schmidt bezeichnete sie als „Gleichgewicht des Schreckens“. Unter dem Nuklearschirm wurde von beiden Supermächten akzeptiert, was im Einflussbereich des jeweils anderen geschah. Zwischen Washington und Moskau wurde ein „Heißer Draht“ eingerichtet, um sich in kritischen Situationen zu verständigen.

Willy Brandt und Egon Bahr knüpften am 15. Juli 1963 in der evangelischen Akademie Tutzingen an die Rede Kennedys an. Bahr brachte die Überlegungen für eine kollektive Sicherheit und Entspannung auf die Formel: „Wandel durch Annäherung“. Die Vorschläge trafen auf massive Kritik der CDU/CSU wie auch der DDR-Führung. Dennoch wurde die „friedliche Koexistenz“ zum Kern der deutschen Ost- und Entspannungspolitik, nach 1969 zum Aushängeschild der sozialliberalen Bundesregierung. Es war eine Phase der Aufklärung und Vernunft, die weder Furcht noch Vertrauensseligkeit kannte.

Friedenspolitik ist im Atomzeitalter die wahre Realpolitik, ein mühsamer, aber notwendiger Prozess, in dessen Mittelpunkt pragmatische Schritte für Vertrauensbildung und menschliche Erleichterungen standen und stehen müssen für europäische Sicherheit, Gewaltverzicht, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Willy Brandt beschrieb anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 1971 seine Position mit dem Satz „Krieg ist nicht die ultima ratio, sondern die ultima irratio“.

Die Verträge mit der DDR, Polen, UdSSR und Tschechoslowakei standen im Zentrum der ersten Phase der Entspannungspolitik. Die zweite Phase, die Vereinbarungen für eine gesamteuropäische Sicherheit beinhaltete, begann 1973. Am 1. August 1975 wurde auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) die Helsinki-Schlussakte verabschiedet, eine selbstverpflichtende Erklärung für die friedliche Regelung von Konflikten und die Einhaltung von Grundfreiheiten und Menschenrechten. Zu den Prinzipien gehörten eine Sicherheitskooperation statt Konfrontation und eine umfassende und ungeteilte Sicherheit „von Vancouver bis Wladiwostok“. Die deutsche Entspannungspolitik wurde in eine gesamteuropäische, ja sogar globale Entwicklung und Zusammenarbeit eingebunden.

Die Chancen für eine Friedenspolitik waren ab Mitte der 1980er Jahre größer denn je. In der UdSSR zeichneten sich massive Veränderungen ab, besonders durch Michail Gorbatschow, dessen Politik von der deutschen Ost- und Entspannungspolitik mitgeprägt wurde. Es kam zu einem neuen Denken: Perestroika und Glasnost. Brandt gefiel das Bild vom „Gemeinsamen Haus Europa“. Für ihn war es an der Zeit, in kontinentalen Gesamtzusammenhängen zu denken. Über das Zusammenleben im europäischen Haus, um dessen Verfügungsgewalt sich die beiden Weltmächte in der zweigeteilten Welt gestritten hatten, müssten nun die Menschen bestimmen, „die darin wohnen, darin aufgewachsen und auch davon abhängig sind“.

Gorbatschow war von der Idee der Gemeinsamen Sicherheit überzeugt. Rüstungskontrolle und Abrüstung bekamen einen hohen Stellenwert. Zusammen mit US-Präsident Ronald Reagan unterschrieb er 1987 den INF-Vertrag für die Verschrottung amerikanischer und sowjetischer Mittelstreckenraketen in der Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern. Schon in den 1970er Jahren war es zum Anti-Ballistic Missile Treaty (ABM-Vertrag) gekommen, dem die Strategic Arms Limitation Talks (SALT) vorausgegangen waren. USA und die UdSSR unterzeichneten 1991 den Strategic Arms Reduction Treaty-Vertrag (START) und 2002 den Vertrag über Open Skies. Wichtig waren auch der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), der Obergrenzen für schwere Waffensysteme vorsah, und das Wiener Dokument zur Vertrauensbildung der KSZE-Staaten, beide von 1990.

Michail Gorbatschows Politik der ausgestreckten Hand machte das Ende der zweigeteilten Welt möglich. Es kam zur deutschen Einheit, ohne dass ein Schuss gefallen ist. Die russische Armee ist ohne Zeitverzögerung aus Deutschland abgezogen. Die Auflösung des sowjetischen Weltimperiums geschah nahezu gewaltlos. Damals hätte es zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur kommen können und müssen. Nicht durch eine Abkehr von der Friedens- und Entspannungspolitik, sondern durch ihre Weiterentwicklung, die von Willy Brandt als „Europäisierung Europas“ beschrieben wurde. Sie sollte die Konfrontation und das Streben nach militärischer Dominanz beenden. Das war keine Aufgabe der Westbindung, zielte aber wohl auf eine größere Souveränität Europas. Die USA hatten allerdings andere Interessen. Sie sahen in der NATO nicht nur ein Verteidigungsbündnis, sondern auch ein Instrument für ihre Hegemonie in West- und Mitteleuropa.

Nach dem historischen Jahr 1990 breiteten sich auch Ignoranz, Überheblichkeit und Undankbarkeit gegenüber der UdSSR, bzw. Russland aus. Nach dem Ende der „Pax Atomica“ ist es nicht zu einer stabilen und kooperativen Friedensordnung gekommen, obwohl im Jahr 1990 die „neue Zeit“ mit der „Charta von Paris für ein neues Europa“, die für die Zukunft eine enge Zusammenarbeit in wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und sicherheitspolitischen Fragen zwischen dem alten Westeuropa und den östlichen Staaten des Kontinents versprach, so hoffnungsvoll angefangen hat.

Anfangs gab es noch Schritte für eine Verständigung. Am 1. Januar 1994 wurde die KSZE in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) umgewandelt. 1997 kam es zur NATO-Russland-Grundakte. Vereinbart wurden eine Stärkung der OSZE als gemeinsame Sicherheitsorganisation, u. a. für Rüstungskontrolle und Raketenabwehr. In der europäischen Sicherheitscharta der OSZE von 1999 heißt es, dass ihre Mitgliedsstaaten sich verpflichten, „ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten (zu) festigen“.

Der damalige Bundesaußenminister Hans Dietrich Genscher: „Die Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung muss nun heißen: gesamteuropäische Verantwortungspolitik und globale Kooperation, nicht Rückfall in die nationalistischen Irrwege des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.“ Und er mahnte: „Die Geschichte pflegt ihre Angebote nicht zu wiederholen und die Chancen, die sie uns bietet, bestehen nicht ewig.“ Moskau unterzeichnete im Jahr 2004 auch den KSE-Vertrag, doch die NATO-Osterweiterung um die baltischen Staaten erfolgte ohne deren Ratifikation. Daraufhin suspendierte Russland den KSE-Vertrag im Jahr 2007.

Die Chancen wurden vertan. Nichts symbolisiert die Ignoranz und Respektlosigkeit gegenüber der historischen Leistung Gorbatschows mehr als die Abwesenheit führender staatlicher Repräsentanten anderer Länder bei dessen Bestattung am 3. September 2022 auf dem Ehrenfriedhof in Moskau. Zumindest aus Deutschland, das dem verstorbenen Staatsmann so viel zu verdanken hat, hätten Regierungsvertreter am Grab stehen müssen.

Das Jahr 2008 wurde zum Wendejahr, insbesondere durch die Entscheidungen des Bukarester NATO-Rates, auf dem die fünfte Osterweiterung beschlossen wurde. Zwischen Russland und dem Westen bauten sich neue Spannungen auf. 2013/14 kam es zu den Maidan-Konflikten in Kiew mit den Folgen der Konflikte im Donbass und zur Annexion der Krim. Die Minsker-Abkommen, die auf Vermittlung von Deutschland und Frankreich zustande kamen, wurden von beiden Seiten nicht eingehalten. Der deutsche OSZE-Vorsitz von 2016 versuchte den „Dialog zu erneuern, Vertrauen wiederaufzubauen und Sicherheit wiederherzustellen.“ Aber es war zu schwer, zumal auch Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer vermittelnden Position im Ukraine-Konflikt in Washington keine Unterstützung fand.

In der Folge der zunehmenden Spannungen kam es zum Kollaps der Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle, der INF-Vertrag wurde zuerst von den USA aufgekündigt. Im Dezember 2021 legte die russische Seite einseitig einen neuen, unrealistischen Vertragsentwurf für eine Verständigung vor, der keine NATO-Erweiterung im post-sowjetischen Raum und eine Rücknahme militärischer Infrastruktur auf den Stand von Mai 1997 vorsah. Seit dem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine spitzte sich die Lage dramatisch zu. Noch einmal: Es gibt keine Rechtfertigung für den Ukraine-Krieg, aber die Vorgeschichte muss gesehen werden.

Am 29. März 2022 schien nach positiven Verhandlungen in Istanbul ein Friedensschluss nahe. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi erklärte damals: „Sicherheitsgarantien und Neutralität, ein nicht-nuklearer Statusunseres Staates. Wir sind bereit, uns darauf einzulassen.“ Doch das war kurze Zeit später – wahrscheinlich auch durch ausländische Intervention – vorbei, der Krieg wurde zu einem Stellvertreterkrieg. Seitdem fordert Selenskyi einen vollständigen Sieg und die Rückeroberung aller Gebiete. Das Problem ist, dass dieses Ziel, wie die New York Times feststellte, nur durch eine direkte Beteiligung der NATO zu erreichen ist. Die Ukraine allein kann Russland nicht besiegen.

Heute sind auf ukrainischer Seite (einschließlich paramilitärischer Einheiten) rund 940.000 Soldaten im Einsatz, die Reserven sind nur noch gering. Es werden bereits über 60jährige Männer und Jugendliche unter 16 Jahre eingezogen. Auf russische Seite gibt es 620.000 Soldaten und Söldner im Krieg. Die Ukraine hat weniger als 1.000 Kampfpanzer, Russland rd. 2.070 im Einsatz und ca. 5.000 in Reserve. Bei den Kampfflugzeugen ist das Verhältnis etwa 80 zu 1.300. Je mehr Russland verliert, desto größer wird die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen. Russland verfügt über rd. 6.200 A-Waffen, von denen ca. 1.600 einsatzbereit sind. Daraus ergeben sich vier Thesen, die Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik herausgearbeitet hat:

  1. Der Kumulationspunkt des Krieges ist noch nicht erreicht. Ohne Friedensplan ist ein Abnutzungskrieg wahrscheinlich.
  2. Der Westen kann Russland nicht isolieren. Außer den NATO-Staaten haben sich nur sechs Länder den Sanktionen gegen Russland angeschlossen, also weniger als 40 von rund 200 Staaten.
  3. Die ukrainische Abhängigkeit von westlichen Waffenlieferungen wächst stark an. Sie unterliegt freilich erheblichen politischen und ökonomischen Risiken.
  4. Die Risiken einer Eskalation des Krieges sind auf dem Höchststand in der Welt seit der Kubakrise. Nach dem Ende der Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung fehlt jede internationale Stabilität.

Wir brauchen einen Plan für den Frieden. Natürlich ist Russland der Angreifer und natürlich hat die Ukraine ein Selbstverteidigungsrecht. Aber ein Verhandlungsfrieden wird nur möglich, wenn beide Seiten auf Maximalziele verzichten. Dabei darf nicht die Schwächung der Sicherheit Russlands im Vordergrund stehen, was Ende der 1970er Jahre die Linie von Zbigniew Brzezinski war, dem Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, der noch immer einen erheblichen Einfluss auf die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik hat. Für ihn ist die Ukraine die Schlüsselfrage für die „eurasische Stärke“ Russlands. Ohne die Ukraine wären Moskaus geopolitische Optionen stark beschnitten. Die Machtverhältnisse auf dem eurasischen Kontinent wären entscheidend für die globale Vormachtstellung der USA.

Der frühere NATO-General Harald Kujat sieht in der Ablehnung der friedenspolitischen Optionen, die in Istanbul zwischen Russland und der Ukraine ausgehandelt wurden, das Ende des dualen Ansatzes, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu stärken und eine diplomatische Lösung zu erreichen. Solange Krieg herrscht, hat Moskau noch immer große militärische Eskalationsmöglichkeiten, aus der eine Endlosschleife der Gewalt werden kann.

Putin hat das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte. Die Ukraine ist in vielen Regionen ein zerstörtes Land, die Bevölkerung ist aufgeladen mit antisowjetischen Ressentiments. Um den Krieg zu stoppen, ist eine Vermittlung von dritter Seite für einen Waffenstillstand dringend erforderlich. Infrage kommen dafür Länder, die sich für eine Vermittlung angeboten haben und in Moskau Gehör finden. Ein Weg wäre, wenn die B (R) ICS-Staaten Brasilien, Indien, China und Südafrika zusammen mit weiteren Staaten wie Indonesien Einfluss auf Russland nehmen, um zu einem Waffenstillstand zu kommen. Das ist der richtige Weg. Dabei sollte auch UNO-Generalsekretär António Guiterres einbezogen werden. Die Vorschläge von Istanbul können erneut aufgegriffen werden.

Ein Waffenstillstand kann dann die Verhandlungen für einen nachhaltigen Frieden öffnen. Grundlage sollte die Charta von Paris sein. Insbesondere die europäischen Kernländer Deutschland und Frankreich sind gefordert, diesen Prozess voranzutreiben. Hier könnte Bundeskanzler Olaf Scholz eine entscheidende Rolle übernehmen. Die globalen Probleme gemeinsam und friedlich zu lösen, dazu gibt es keine Alternative. Das setzt voraus, durch Kooperation zwischen den Staaten und natürlich auch zwischen den Zivilgesellschaften neues Vertrauen zu schaffen. Andernfalls wird sich schnell große Ernüchterung breit machen.

Antje Vollmer hat recht, die wichtigsten Fragen, die sich uns heute stellen, lauten: Was bedeutet es, eine europäische Nation zu sein? Was sind die Lehren aus unserer Geschichte angesichts des Ukraine-Krieges und vor dem Hintergrund des sich ausbreitenden Nationalismus und Chauvinismus, damit Europa eine Friedensmacht ist? Fest steht: Wer unseren Planeten retten will, der muss die dunklen Seiten der Zivilisation bekämpfen. Hass, Nationalismus, völkisches Denken und Krieg. Wir müssen nach vorne blicken und erneut die konkrete Vision einer Gemeinsamen Sicherheit entwickeln. Andernfalls werden wir weiter mit schrecklichen Kriegen konfrontiert und bedroht in einer Welt, die sozial und kulturell tief gespalten ist.

Die Autoren:

Prof. Dr. Peter Brandt, Historiker

Reiner Braun, Friedenskooperative

Reiner Hoffmann, ehem. Bundesvorsitzender des DGB

Michael Müller, Parlamentarischer Staatssekretär a.D., Bundesvorsitzender der NaturFreunde